Heute hier, morgen fort

Tagsüber von neun bis fünf arbeitet er als Postmann in einer niederländischen Großstadt, ab sechs Uhr abends kontrolliert er Studentenausweise in einem Sportzentrum. Das Wochenende verbringt Vincent häufig in Belgien, als Kajakfahrer leitet er Bootstouren in den Ardennen. Im Sommer führt der Mitte dreißigjährige Raftguide Abenteuertouristen über die Stromschnellen des Sambesi unterhalb der Viktoria Fälle. Für zwei Monate im Jahr besucht der gebürtige Sambier seine Familie, die in einem Dorf nahe der Ausstiegstelle an der spektakulären Schlucht lebt, einige Kilometer von Livingstone entfernt, der ehemaligen Hauptstadt des kolonialen Rhodesien, benannt nach dem damaligen Entdecker und Missionar David Livingstone.

Als kleiner Junge rannte Vincent den Trucks hinterher, die hier auf der Rückkehr von ihrer Sambesi-Tagestour vorbeifuhren. Als junger Mann trug er dann tageweise die Boote der ausländischen Veranstalter aus der steilen Schlucht hinaus, für damals fünf Kwacha (2005: 5500 Kwacha sind ein Euro) pro Boot. Als sich über die Jahre eine Vertrauensbasis zwischen ihm und seinem Chef bildete, bot der ihm eine Ausbildung als Raftguide an - ein Job, der bis dahin den weißen Immigranten aus Europa und Südafrika vorbehalten war. Trainingscamps in den USA, Australien und Costa Rica waren die ersten Auslandserfahrungen, dann wurde Vincent der - wie es heißt - erste schwarze Raftguide auf dem Zambesi. Inzwischen hat er in Österreich für das deutsche Unternehmen Lemming Tours die Alpenflüsse befahren.

Das Aussehen des Dorfes hat sich seit seiner Kindheit kaum gewandelt: Lehmhütten mit Strohdächern inmitten einer trockenen Savannenlandschaft, in der die Elefanten regelmäßig die Ernte platt trampeln, kein öffentlicher Transport, kaum Wasser, eine kleine Grundschule, keine Gesundheitsstation, nicht einmal ein Kiosk, nur ein kleines Fußballfeld für die Kinder. Erst die Familiengeschichte von Vincent enthüllt das globalisierte Milieu, in dem die DorfbewohnerInnen leben. Der jetzt 80-jährige Vater war als Koch im Hotel Intercontinental tätig. Die Schwester arbeitet als Rezeptionistin in einer Mittelklasse-Lodge in der Stadt. Der eine Bruder ist Träger und wartet seit nunmehr sechs Jahren auf die Chance, auch einmal eines der Boote fahren zu dürfen, die er, wenn es genügend Touristen gibt, für zwei Dollar pro Tour die Schlucht runter und wieder hoch trägt. Zwei andere Brüder haben es inzwischen bis zum Raftguide geschafft, einer von ihnen ist in der Schweiz gewesen. Der älteste Bruder verkauft Schnitzfiguren auf einem Souvenirmarkt am Parkeingang zu den Victoria Falls. Vincent selbst hat seine niederländische Frau vor einigen Jahren in Livingstone kennengelernt.

Ein globales Dorf inmitten der "Wildnis"


Wenn der Truck mit den Abenteuerreisenden nachmittags mitten durchs Dorf fährt und für eine halbe Minute hält, weil die Träger hier abspringen, machen die TouristInnen von ihren Hochsitzen aus Fotos von den zuschauenden Kindern, von Lehmhütten und von bunt gekleideten Frauen, die mit Brennholzstapeln auf dem Kopf zwischen den Baobabbäumen auftauchen. Dabei sehen und ahnen die TouristInnen nichts von dem globalen Beziehungsgeflecht, in das viele der hier lebenden Familien verwoben sind - in materieller, sozialer und kultureller Hinsicht. Das Beispiel des sambischen Dorfes und Vincents Geschichte zeigt, dass komplexe Lebensrealitäten und kulturelle Mehrfachzugehörigkeiten mit Sicherheit nicht diejenigen Konstellation sind, die von den TouristInnen wahrgenommen werden, wenn es um die lokalen DienstleisterInnen im Tourismus geht. Das globalisierte Milieu, in dem viele der (Ex-)DorfbewohnerInnen leben, und die ökonomischen und materiellen Verflechtungen, die sich daraus ergeben, sind den Lehmhütten auf den ersten Blick eben nicht anzusehen. Der touristische Blick auf das Dorf erschließt diese Perspektive nicht.

Als der Missionar und Forschungsreisende David Livingstone 1855 den Sambesi erreichte, benannte er die spektakulären Wasserfälle, die er dort vorfand nach der englischen Queen. Der Name Victoria Falls existiert bis heute, und so heißt ebenfalls der Touristenort, der sich auf der zimbabwischen Seite der Wasserfälle schon früh entwickelt hat. Nach dem Entdecker selbst wurde der gegenüberliegende Ort auf sambischer Seite benannt. Die weit gewichtigere Hinterlassenschaft, für die der Name Livingstone steht, ist der koloniale Abenteurer- und Entdeckermythos, dessen touristische Vermarktung heutzutage hochaktuell ist. Mit dem auffordernden Slogan "follow Livingstone's footsteps" versuchte das Tourismusministerium 2005, dem 150sten Jahrestag der "Entdeckung", sowohl Investoren, Reiseveranstalter als auch TouristInnen an die Fälle zu locken. Ein gutes Jahr später entfachte der Bauplan für ein Fünfsternehotel mit 1.900 Betten und, wie es heißt, 2.000 Arbeitsplätzen, in Livingstone einen gesellschaftlichen Konflikt. Globale und lokale Interessen stoßen dabei aufeinander und zeigen, wie eng die Versprechungen bzw. Hoffnung auf Arbeitsplätze, unternehmerisches Profitdenken und Naturschutzbelange um die Vorstellung von lokal verorteten Strukturen kreisen, obwohl der Tourismus längst ein transnationalen verflochtenes Milieu in jeder Hinsicht ist.

Verortete Vorstellungen…

Gerne folgt der touristische Abenteuerblick den Sehgewohnheiten der vorkolonialen Entdeckungsreisenden: die Romantisierung und symbolische Aneignung von vermeintlich unberührter Natur über das Abenteuer Rafting und der vermeintlich geschichtslosen Kultur über das Fotografieren der Dörfer in einer als The Real Africa gekennzeichneten Landschaft hat koloniale Züge. Ute Luig bezeichnet die Viktoria Fälle als "Schauplatz kolonialer Machtergreifung" und analysiert das Naturverhältnis der Europäer als ein konsumptives: "Das wahre Afrika wird durch die Wildnis repräsentiert, die Bilder von Ursprünglichkeit, Menschenleere, Unzivilisiertheit evoziert, ein Symbol des Archaischen, das als bedrohlich und begehrenswert zugleich empfunden wird. Natur hat hier keine Geschichte wie auch die Gesellschaften … bei den abendlichen Tanzvorführungen als scheinbar geschichtslos …dargestellt werden."

Und die touristische Wahrnehmung der in Livingstone lebenden Menschen? Einerseits beziehen die Reisenden ihr Wissen aus Nachrichten und Infotainment-Angeboten, die ein allgemein verbreitetes Afrikabild bedienen. Häufig werden hier Armut und Perspektivlosigkeit in den Vordergrund gerückt und in einer medialen Bildersprache eindrücklich beschrieben, selten jedoch erfährt man in Europa von den Anstrengungen der BewohnerInnen, mit ihrer politisch und ökonomisch prekären Situation aktiv umzugehen. Reisebücher, Reisereprotagen und Tourismuswerbung fokussieren meist selektiv entweder Armut und Resignation oder Exotik und Wildnis und prägen so touristische Blicke, die auf der Reise gerne bestätigt werden. Für Jean Mweene, der Koordinatorin eines NGO-Verbandes für Genderprojekte in Livingstone, stellt sich diese touristische Wissensproduktion so dar: "Die TouristInnen wollen nicht mit denjenigen sprechen, die eine gute Ausbildung haben, sie wollen nicht herausfinden, was hier wirklich vorgeht. Den TouristInnen werden Videos über das Dorfleben mit dickbäuchigen Kindern und unter miserablen Lebensbedingungen vorgeführt, sie machen sich dann entsprechend ihr Bild vom tatsächlichen Afrika. Ich glaube, dass den BesucherInnen erzählt wurde, Afrika sei der schwarze Kontinent und die Menschen seien unzivilisiert und rückständig. Wenn sie dann hier sind, wollen sie den Unterschied nicht wahrnehmen, sie wollen das sehen, was ihnen vorher erzählt wurde. Sie erwarten, eben dies zu finden und besuchen die Dörfer, um danach zu suchen."

Gerade im Abenteuertourismus ist es auffällig, dass die DienstleisterInnen, die das Abenteuer logistisch ermöglichen, konsequent ausgeblendet werden. So finden sich in Sport- oder Reisereportagen allenfalls einige sekundenlange, kommentarlose Passagen, in denen Träger gezeigt werden, oder kurze Szenen mit tanzenden Heilern im Lendenschutz, welche die Klischeevorstellung der exotischen Wilden reproduzieren. Die Arbeitsbedingungen oder postkolonialen Beziehungen zwischen weißen (und schwarzen) TouristInnen und schwarzen (und weißen) DienstleisterInnen werden in diesen Reportagen in der Regel nicht thematisiert.

Der Film Livingstones Erben wurde mit dem expliziten Anliegen gedreht, eben diese historisch bedingte und ständig reproduzierte Beziehung zwischen den Reisenden, die das koloniale Abenteuer suchen und den Trägern und Raftguides, die ihnen eben dieses Abenteuergefühl ermöglichen, sichtbar zu machen und Fragen aufzuwerfen. Der Film lässt dafür die lokalen Beschäftigten zu Wort kommen und gibt Einblicke in ihr teilweise migrantisches Leben sowie ihre Perspektiven auf den Tourismus an den Viktoria Fällen. Insofern können zwei Gruppen als "Livingstones Erben" bezeichnet werden: TouristInnen und Tourismusbeschäftigte. Beide sind auf unterschiedliche Art und Weise an der imaginären Konstruktion des Entdecker- und Abenteuermythos beteiligt.

Auch aus aktueller sozio-ökonomischer Perspektive ist die Situation der beiden Orte interessant: während der Ort Victoria Falls in Zimbabwe besonders in den 90er Jahren der Ausgangspunkt für wohlhabendere Reisende und ein "Musterort" der touristischen Entwicklung war, stiegen in Livingstone in Sambia die so genannten "Backpacker" ab, die mit einem "Substandard-Angebot" Vorlieb nahmen. In den letzten Jahren hat der Tourismus in Zimbabwe aufgrund der politischen Situation einen starken Einbruch erlitten, während Sambia versucht, das Image des von lange von einem marodem Staatssozialismus gekennzeichneten Landes zu verbessern und auf einen Tourismusboom hofft. Wie schätzen die Tourismusbeschäftigten heute die Situation ein? Welche hierarchischen Beziehungen, welche Formen der Selbstorganisation existieren unter den DienstleisterInnen? Welche Strategien haben sie entwickelt, einerseits im Umgang mit TouristInnen, andererseits anbetracht der touristischen Konkurrenzsituation zwischen Sambia und Simbabwe, die dafür sorgt, dass die wenigen Arbeitsplätze im Tourismus morgen wieder an den Nachbarn verloren gehen können?

… mobile Exoten


Gewöhnlich ist der touristische Blick blind für die identitätswandelnde und -stiftende Bedeutung, die sich für die DorfbewohnerInnen mit den Beschäftigungsmöglichkeiten im Abenteuertourismus ergeben. Auch die sozialen Prozesse durch die tägliche Konfrontation mit einem massiven (infra-)strukturellen Wandel der Region infolge der Tourismusentwicklung nehmen die Abenteuerreisenden oft nicht wahr .

Der Museumsdirektor Vincent Katanekwa und die NGO-Kooridnatorin Sean Mweene nennen diesbezüglich Landverlust, Preissteigerung bei Lebensmitteln und Transport, Aids, Sextourismus, Privatisierung von Land. Der Verlust staatlicher Kontrolle über Investitionen und niedrige Löhne sorgt für neue Verteilungs- und Interessenkämpfe zwischen ausländischen und inländischen UnternehmerInnen, zwischen Staat und BürgerInnen, zwischen Land- und Stadtbevölkerung. Diese Verteilungskämpfe entgehen den meisten TouristInnen, sie genießen vielmehr die Vorteile, die Ihnen die Gewinner bieten - und manchmal eben auch die Verlierer, wenn dies in ihrer in Lehmhütten konservierten Perspektivlosikeit das erwartete Bild authentischer Wilder bedienen.

Erst individuelle Lebensgeschichten wie die von Vincent zeigen, wie sehr die BewohnerInnen in die materiellen, kulturellen und symbolischen Prozesse der Globalisierung selbst involviert sind. Und nicht alle Beispiele sehen so glücklich aus. Es sind nur wenige, die sich über den Tourismus auf Dauer sozial und ökonomisch emanzipieren können. Steigende Benzin- und Lebensmittelpreise, verwehrter Zugang zu ehemaligem Weideland, Aids, Prostitution und soziale Ausgrenzung, Verschuldung von KleinunternehmerInnen und teils repressive Sicherheitskontrollen - in Zimbabwe gibt es eine Tourismuspolizei, die Reisende vor "Belästigungen" seitens Einheimischer schützen - sind eben auch das Ergebnis des Tourismus und zugleich der Preis, den viele für die wenigen Jobs zahlen, die das Tourismusgeschäft geschaffen hat. Insofern ist Armut nicht (nur) die Erbschaft aus vorkolonialen Zeiten und Tourismus nicht für alle ein Segen.

Die sehr unterschiedlichen materiellen Möglichkeiten oder Chancen von TouristInnen und Einheimischen und die daran geknüpfte westliche Vorstellung von kosmopolitischen, moblilen Reisenden und verorteten lokalen Gesellschaften werden von der Realität jedenfalls immer neu gebrochen. Sicher, die Mehrzahl der Beschäftigten oder auch der in den Destinationen lebenden Menschen sind weit weniger oder weniger weit gereist und haben nicht in gleichem Maße die Möglichkeiten zur Mobilität wie die europäischen TouristInnen, da Hautfarbe, Pass und Geld noch immer ganz wesentlich als Zugangsbeschränkung wirksam sind. Doch beherrschen sie oft mehrere Sprachen und wissen über die Herkunftsländer ihrer Kundinnen besser Bescheid. Viele haben ein sehr differenziertes Bild über Europa - und auch über die TouristInnen, mit denen sie zu tun haben. Auf keinen Fall sind sie die verorteten Exoten, wie es die Fotos der TouristInnen und die Werbung der Tourismusindustrie, in Verbindung mit dem touristischen Nicht-Wissen der BetrachterInnen, gerne vermitteln.

Martina Backes